NZZ am Sonntag:
Gastbeitrag
Bequemlichkeit hat ihren Preis
Wenn Unternehmen das eigenständige Denken ihrer Mitarbeitenden nicht mehr gezielt fordern und fördern, könnten sie für die erhofften Einsparungen durch KI einen hohen Preis zahlen. – Von Dominik Imseng, Managing Partner bei smartcut consulting
(NZZ am Sonntag, 22. Juni 2025)
In Sekunden erledigen, wofür früher Stunden, wenn nicht Tage oder gar Wochen nötig waren: In der Wirtschaft wird KI so enthusiastisch gefeiert wie das 5:0 gegen Inter Mailand bei den Fans von Paris Saint-Germain.
KI werde massgeblich die Produktivität der Mitarbeitenden steigern, tönt es aus den Führungsetagen. Die negativen Folgen des Fachkräftemangels würden gemildert. Überdies stärke KI die Innovationskraft von Unternehmen, sind 86 Prozent der Befragten einer Studie überzeugt, die der Zürcher Think Tank W.I.R.E. durchführte.
Wer auch nur ansatzweise die menschliche Natur berücksichtigt, sollte diesen Optimismus nicht naiv teilen. Tatsächlich könnte sich KI für viele Unternehmen nicht als Produktivitätsturbo erweisen, sondern als Trojaner. So nennen Programmierer Software, die wie eine nützliche Anwendung wirkt, in Wahrheit aber jede Menge Schaden anrichtet.
Darum geht’s: KI besorgt aktuell oft nicht nur Monatsabschlüsse, die Säuberung von Daten oder die Priorisierung von Kundenanfragen, sondern übernimmt auch Aufgaben, die strategisch absolut entscheidend sind – von der Identifizierung neuer Marktsegmente über die Optimierung von Prozessen bis hin zur Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen.
Allein: Wettbewerbsvorteile entstehen nicht durch sofortige Antworten. Sondern durch die Bereitschaft, länger und härter nachzudenken als die Konkurrenz. Durch die mühsame Suche nach dem richtigen Weg, der dann wieder verworfen wird, um zuletzt doch der einzig richtige zu sein. Durch die Bereitschaft, dem «Need for Closure» zu widerstehen – so nennen Verhaltenswissenschaftler unser Bedürfnis, das belastende Gefühl, ein Problem noch nicht vom Tisch zu haben, durch vorschnelle Scheinlösungen zu betäuben.
Für diesen aufreibenden Prozess des produktiven Scheiterns hin zum Erfolg braucht es Mitarbeitende, die bereit sind, ihn auf sich zu nehmen. Doch KI mit ihrem verführerischen Versprechen, Ergebnisse zu liefern, die kaum noch Arbeit erfordern, droht dies zu verhindern. Und züchtet stattdessen Mitarbeitende, die wie Profis wirken, aber in Wahrheit Hochstapler sind.
Ein kurzer Blick in das soziale Business-Netzwerk LinkedIn genügt, um zu erfahren, wie gross die Lust auf eigenständiges Denken bei der Belegschaft vieler Unternehmen noch ist. Am meisten Likes gibt es dort für Prompts – dank KI vermeintlich real gewordene Zaubersprüche, die auf Knopfdruck Mittelmässigkeit mit Hochglanzfilter produzieren. Damit wird vielen Mitarbeitenden suggeriert, dass nur noch selber denkt, wer nicht weiss, wie man das der Maschine überlässt. Der Ausdruck «Cheat Sheet», der für Prompts-Sammlungen zum Erledigen ehemals Hirnschmalz erfordernder Aufgaben gern verwendet wird, bringt es auf den Punkt: So wie ein Spickzettel fehlendes Wissen ersetzt, ersetzen Prompts fehlende Kompetenz.
Dies gilt es recht für die Mitarbeitenden von morgen. Erinnern Sie sich noch, wie unangenehm es sich zu Beginn Ihrer Karriere anfühlte, ein kompletter Anfänger zu sein? Blut, Schweiss und Tränen – das bleibt den Berufseinsteigern von heute erspart. Mit fatalen Folgen: Wer gar nicht mehr weiss, was es heisst, wirklich schlecht zu sein, da KI ja jederzeit etwas Pseudo-Kluges ausspuckt, macht sich auch nicht mehr die Mühe, wirklich gut werden zu wollen.
Daher meine Befürchtung: KI wird dazu führen, dass immer öfter Mitarbeitende entstehen, die sich mit dem Erstbesten zufriedengeben, das die Algorithmen liefern. Damit verschwindet zunehmend die analytische und strategische Exzellenz, die für es echte Wettbewerbsvorteile braucht. Viele Unternehmen, die im Moment noch glauben, mit KI die Produktivität und Innovationskraft steigern zu können, drohen so, als ein Stück von Dürrenmatt zu enden, in dem sich Komödie und Tragödie die Hand reichen. Ihre Mitarbeitenden liefern auf Knopfdruck, was gefragt ist, verstehen aber nicht, warum. Sie stellen keine besseren Fragen, weil KI vermeintlich schon alle Antworten generiert.
Dass Bequemlichkeit ihren Preis hat, wissen wir nur zu gut. Seit der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes sesshaft wurde, bei der Fortbewegung im Auto genauso wie bei der Arbeit im Büro, nehmen Übergewicht, Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen drastisch zu.
Wir sollten uns fragen, was passiert, wenn wir nun auch geistig unbeweglich werden. Die Konsequenz für Unternehmen liegt schon mal auf der Hand: Wer Mitarbeitende nicht ausbildet, wie sie den Output von KI konsequent hinterfragen und optimieren können, wer zulässt, dass KI statt zum Co-Piloten zum Autopiloten wird, wer eigenständiges, kreatives Denken nicht mehr gezielt fordert, fördert und belohnt, der zahlt für die erhofften Einsparungen durch KI den höchsten Preis überhaupt: die Gefährdung des Unternehmenserfolgs.